B. Versicherungsfälle: Arbeitsunfall, Wegeunfall und Berufskrankheit
1.11 Die Wesentlichkeit der Mitursache
Vergegenwärtigen wir uns dies an einem Beispiel. In eine Straßenkreuzung, in deren Mitte auf einem Podest ein Polizeibeamter den Verkehr regelt, fahren aus fünf verschiedenen Straßen zur gleichen Zeit fünf Fahrzeuge, die gleichzeitig in der Mitte mit dem Podest zusammenstoßen. Hebt die Ursächlichkeit des einen Fahrzeuges oder von vier Fahrzeugen die Kausalität der anderen Fahrzeuge auf oder sind alle fünf Fahrzeuge mitursächlich an dem Unfall beteiligt, der zum Schaden des Polizeibeamten führt? Die Antwort dürfte hier klar sein. Was aber für die praktische Lebenserfahrung bei Mitursächlichkeiten eindeutig ist, nämlich daß im Berufskrankheitsfall etwa, den man zum Vergleich heranziehen mag, die berufliche Asbesteinwirkung und das private Zigarettenrauchen schädlich zusammenwirken, und jede dieser Ursachen für sich wesentlich ist, bereitet dann aber im Berufsgenossenschaftsfall und bei Gericht die größten Schwierigkeiten. Dabei entscheidet sich die Wesentlichkeit einer Mitursache nach der Rechtsprechung nach der sogenannten praktischen Lebenserfahrung, über die auch Sie verfügen.
Vorsicht: Statt, daß hier tatsächlich die praktische Lebenserfahrung entscheidet, ob etwas wesentlich ist oder nicht, wird in nicht mehr nachvollziehbarer Weise „gewertet“, und zwar je nach dem Standpunkt des jeweiligen Beurteilers.
Objektive Maßstäbe werden bei dieser ausufernden „Wertung“ vernachlässigt und selbst deutlichste Mitursachen beruflicher Art werden beiseite geschoben, etwa die Wegegefahr in dem Sinne, daß ein anderer Verkehrsteilnehmer dem Versicherten die Vorfahrt nimmt.
1.12 Neu: Die sogenannte „finale Handlungstendenz“ im Widerstreit zur gewohnheitsrechtlich anerkannten Kausalitätsnorm
Mit einem ungewöhnlichen Beispiel führte das Bundessozialgericht (BSG in der Fachzeitschrift „Die Sozialgerichtsbarkeit“, 1988, Seite 21 ff) dieses neue Kriterium der sogenannten finalen Handlungstendenz ein. Wenn man nur auf die objektive Kausalität abheben würde, könnte sogar ein Brandstifter nach § 539 II RVO wie ein Versicherter geschützt sein, der die Scheune eines Bauern abbrennt und sich dabei verletzt. Dies könnte dem Unternehmen des ahnungslosen Bauern deshalb objektiv dienlich sein, weil der Bauer nunmehr durch seine Versicherung instandgesetzt ist, die marode Scheune zu erneuern. Was derjenige, der dieses Beispiel in die Welt gesetzt hat, nicht erörtert, ist das unbestreitbare Faktum, daß ein solcher Fall zu keiner Zeit der mehr als 100 Jahre alten gesetzlichen Unfallversicherung je Schwierigkeiten bereitet hätte. Kein Mensch wäre hier auf den Gedanken eines Versicherungsschutzes der Berufsgenossenschaft für den Brandstifter gekommen. Weil nun aber das gewählte Beispiel so beeindruckte, rückte das Bundessozialgericht nunmehr die Prüfung der finalen Handlungstendenz zur Bestimmung einer versicherten Tätigkeit in den Vordergrund.
Vorsicht: Im Rahmen einer Kausalitätsprüfung läuft die Betonung subjektiver Momente bzw. deren Bestimmung Gefahr, hierdurch die Kausalitätsnorm zu verletzen, welche die gesetzliche Unfallversicherung gewohnheitsrechtlich beherrscht.
Ein bislang unstreitig entschädigungspflichtiger Arbeitsunfall eines Sparkassenangestellten könnte im Lichte der sogenannten finalen Handlungstendenz plötzlich der Ablehnung durch die Berufsgenossenschaft anheimfallen.
Fall: Sparkassenangestellter, der den Schlüssel der Sparkasse am Hosenbund trägt, wird beim Aufsuchen der Toilette in seiner Wohnung samstags nachts überfallen und verletzt. Die Täter wollen sich den Besitz des Schlüssels der Sparkasse verschaffen.
Käme es hier auf eine sogenannte finale Handlungstendenz bei der Tätigkeit zur Zeit des Unfalls an, bestünde kein Versicherungsschutz der Berufsgenossenschaft.
Gefahr: Im Grenzfall verschiebt sich das Ergebnis in das Gegenteil einer kausalen Betrachtung.
Im Berufskrankheitenrecht, das hier ebenfalls zum Vergleich herangezogen sei, ergab dann die Beurteilung nach der sogenannten finalen Handlungstendenz durch das BSG ein fatales Ergebnis.
Fall: Die Asbestkrebserkrankung, die eine Hausfrau aufgrund jahrelanger Reinigung der asbestverschmutzten Arbeitskleidung ihres Ehemannes erlitt, Anwendungsfall des § 539 II RVO, wäre angeblich rein privat entstanden, und zwar ausschließlich im Rahmen des ehelichen Haushaltes. Das Bundessozialgericht hob in kurzem Prozeß das Urteil des Landessozialgerichts NRW auf, welches auf Versicherungsschutz erkannt hatte.
Beurteilen Sie selbst bitte den Fall nach Ihrer praktischen Lebenserfahrung. Wie sieht das Ergebnis Ihrer Kausalitätsprüfung aus, wenn Sie beurteilen sollen, ob die Ehefrau „wie ein Versicherter“ tätig wurde, der seine Arbeitskleidung selbst ausgeklopft hätte und zu Schaden gekommen wäre. Wenn man nachforscht, woher dieser klingende Begriff der sogenannten finalen Handlungstendenz herrührt, an dem die althergebrachte Kausalitätsnorm der Gesetzlichen Unfallversicherung zu scheitern droht, stößt man auf das Schrifttum der Berufsgenossenschaften etwa Watermann in „Die Berufsgenossenschaft“, welcher ehemalige BG-Hauptgeschäftsführer die neue Rechtsprechung des Bundessozialgerichts dann auch naturgemäß für überzeugend hält, in der Zeitschrift „Die Berufsgenossenschaft“ 1990, 99 ff.
Tip: Hören Sie im Grenzfall genau hin und schlagen Sie den Rechtsweg ein, wenn Sie eine wesentliche Kausalität beruflicher Art erkennen. Dann dürfen subjektive Elemente nicht den Ausschlag geben.
In dem einen oder anderen Fall droht überdies die Gefahr, daß unbedarftere Versicherte, die sich bei der Arbeit nicht viel denken, über eine ausufernde berufsgenossenschaftliche Wertung bzw. Anforderung subjektiver Elemente ihren Versicherungsschutz verlieren. Im zum Vergleich herangezogenen Berufskrankheitsfall der Ehefrau, die durch Reinigung von Arbeitskleidung ihres Mannes asbestkrebskrank wurde, läuft sogar die Arbeitsmedizin Sturm gegen die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts. Dies führte zu einer Veröffentlichung von Arbeitsmedizinern in der Fachzeitschrift „Die Sozialgerichtsbarkeit“, was ein absolutes Novum darstellt. Es scheint, als stünde die Rechtsprechung hier am Scheideweg. Denn Dreh- und Angelpunkt einer ordentlichen Unfall- und Berufskrankheitssachbearbeitung ist kausales Denken und nichts anderes. Wie soll der Unfallsachbearbeiter mit folgender Vorgabe klarkommen?
Zitat: „Der Versicherte kann das Opfer einer von ihm selbst ausgelösten Kausalkette sein, wenn er im Rahmen der entschädigungspflichtigen Tatbestände sich selbst verletzt, wie z.B. auf einer Fahrt mit dem Kraftwagen durch die Verursachung eines Verkehrsunfalls. Daraus läßt sich jedoch nicht zwingend die Folgerung ableiten, daß der Versicherte zur Zeit des Unfalles eine versicherte Tätigkeit ausgeübt habe. Diese Frage ist nach finalen Maßstäben wertend zu beurteilen, wie auch die rein naturwissenschaftlich vorgegebene Kausalität einer wertenden Interpretation unterworfen ist.“ Watermann in „Die Berufsgenossenschaft“ 1990, Seite 102, linke Spalte unten.
Nach bisheriger Rechtslage fragte der Sachbearbeiter danach, ob der Betroffene auf einem versicherten Weg mit seinem PKW befindlich war, als er den Unfall erlitt. Dabei handelte es sich um das anspruchsbegründende Moment. Die nächste Frage des Sachbearbeiters lautet dann: Haben hier private Momente mitgespielt oder den Ausschlag gegeben? Entscheidend wäre dann: Kann die Berufsgenossenschaft solche anspruchsvernichtende Tatsachen beweisen? Ansonsten bewendete es in der bisherigen Sachbearbeitung beim Versicherungsschutz.
1.13 Verbotswidriges Verhalten schließt Versicherungsschutz ausdrücklich nicht aus
Verbotswidriges Verhalten schließt einen Versicherungsfall nicht aus, so wörtlich § 7 Absatz 2 Sozialgesetzbuch VII.
Fall: Sie fahren bei rot über die Ampel, um einen geschäftlichen Termin zu halten. Ihr eigener Fehler führt zum Unfall.
Es spielt für die Entschädigungspflicht keine Rolle, ob Sie diesen Fehler vorsätzlich oder fahrlässig begangen haben. Selbst in dem Falle, daß Sie die Ampel auf rot haben umschalten sehen und hofften, die Kreuzung noch passieren zu können, besteht Versicherungsschutz. Zum Vergleich sei auch hier die Berufskrankheit herangezogen, etwa eine Lärmschwerhörigkeit. Hat der Versicherte entgegen der Unfallverhütungsvorschrift keinen Lärmschutz getragen, besteht gleichwohl Versicherungsschutz für eine infolgedessen auftretende berufliche Lärmschwerhörigkeit.
Tip: Behaupten Sie nicht, daß alle Vorschriften beachtet worden wären, wenn dies nicht der Fall war. Denn dann sagt der Gutachter bei der Schwerhörigkeit: Der Versicherte hat angegeben, Lärmschutz respektive Ohrstöpsel bei der Arbeit getragen zu haben. Die Schwerhörigkeit hat deshalb eine andere Ursache.
Verbotswidriges Verhalten schließt nun gerade den ursächlichen Zusammenhang nicht aus. Vielmehr begründet ein solches Verhalten oft erst den Unfall oder den Zusammenhang.
2. Was ist ein Wegeunfall?
2.1 Der Weg vom dritten Ort
2.2 Abgrenzung Geschäftsreise und Berufskraftfahrt