Der Sozialgerichtsprozeß – Revision

13.8 Der kurze Revisionsprozeß

Das Bundessozialgericht hält sich dem Vernehmen nach zugute, die Revisionsverfahren am schnellsten von allen höchsten deutschen Gerichten durchzuziehen.

13.8.1 Wie und wo lege ich Revision ein?

Die Revision ist beim Bundessozialgericht schriftlich einzulegen.

13.8.2 In welcher Frist lege ich Revision ein?

Die Frist für die Einlegung der zugelassenen Revision beträgt 1 Monat. Die Revision ist innerhalb von 2 Monaten nach Zustellung des Urteils oder des Beschlusses über die Zulassung der Revision zu begründen. Es besteht Vertretungszwang, etwa durch einen Rechtsanwalt.

13.8.3 Gegenstand der Revision

Es handelt sich um eine reine Rechtsinstanz, also nicht um eine Tatsacheninstanz verbunden etwa mit umfangreicher Ermittlung der Tatsachen. Oft werden deshalb die Rechtsstreite zurückverwiesen an das Berufungsgericht. Die Revision kann nur darauf gestützt werden, daß das angefochtene Urteil auf der Verletzung von Bundesrecht oder sonstiger Vorschrift beruht, deren Geltungsbereich sich über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus erstreckt.

13.8.4 Die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung

Das Bundessozialgericht ist vor allen Dingen berufen, rechtliche Grundsatzfragen zu entscheiden. So ist beispielsweise der im Gesetz nicht enthaltene Begriff der sogenannten selbstgeschaffenen Gefahr durch die Rechtsprechung des BSG umrissen worden, der nur mit äußerster Vorsicht praktiziert werden dürfte.

Fall: Nach dem Bundessozialgericht handelt es sich um einen Fall der selbstgeschaffenen Gefahr, wenn ein LKW-Beifahrer sich, statt im Führerhaus Platz zu nehmen, auf die oben befindliche Ladebrücke an die frische Luft legt und während der Betriebsfahrt davon herunterfällt.

Der Einwand, daß verbotswidriges Verhalten den Versicherungsschutz nicht ausschließt, zählt hier nicht. In der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten finden sich Härten, die man in der Sozialgerichtsbarkeit als einem Bereich des sozialen Rechts nicht vermuten würde.

Fall: Der Arbeiter ist bereits im März 1988 seinem Asbestlungenkrebs erlegen. Arbeitstechnisch lassen sich 60 sogenannte Asbestfaserjahre ermitteln. Die Berufsgenossenschaft wendet gegenüber der Witwe und den minderjährigen Kindern des Versicherten ein, der Familienvater wäre vor dem Stichtag, 01.04.1988, verstorben, der für die Erweiterung der Berufskrankheitenliste um die sogenannte Faserjahrregelung, mindestens 25 Asbestfaserjahre genügen ab dem 01.04.1988 zur berufsgenossenschaftlichen Anerkennung eines Lungenkrebs, in der Berufskrankheitenverordnung festgelegt worden ist. Eine Anerkennung als Berufskrankheit nach neuer Erkenntnis im Einzelfall wäre aufgrund der neuen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts unzulässig.

Tip: Legen Sie Widerspruch ein.

Diese Neuerung in der BSG-Rechtsprechung ist ein Bruch mit einer jahrzehntelang bewährten Rechtsprechung, daß für die Fälle aus der Vorzeit einer Listenerweiterung zu prüfen ist, ob eine Berufskrankheit nach neuer Erkenntnis im Einzelfall vorliegt, § 551 II RVO bzw. heute § 9 Abs. 2 SGB VII. Es ist nicht nachvollziehbar, wieso es dieses Bruchs mit der früheren Praxis bei den Berufskrankheiten zu Lasten der Betroffenen bedurft hätte.

Hinweis: In diesen Zusammenhang paßt die Erfahrung, die ehrenamtliche Gewerkschaftler in den Berufsgenossenschaften machen. Der berufsgenossenschaftliche Geschäftsführer erklärt, man würde ja gerne helfen, aber das Bundessozialgericht würde dies nicht zulassen.

Nur kann dies nicht ganz richtig sein. Denn das Bundessozialgericht kann erst dann befaßt sein mit einer Sache, wenn zuvor eine berufsgenossenschaftliche Ablehnung erfolgt ist. Insofern liegt der schwarze Peter bei einer Ablehnung nicht allein beim Bundessozialgericht, sondern zuallererst bei der Berufsgenossenschaft, die ebenfalls Sozialjuristen in ihren Reihen hat. Das Bundessozialgericht hat bislang nicht erklären können, warum diese Kursänderung in der Rechtsprechung zu Lasten der Asbestkrebsfälle der genannten Art aus der Vorzeit einer Listenerweiterung, hier der Einführung des Merkmals 25 Asbestfaserjahre beim Asbestlungenkrebs, denn erforderlich wäre. Erst recht hat das Bundessozialgericht in diesem Zusammenhang nicht erklären können, wie denn rückwirkend etwa eine Rechtsverordnung (Berufskrankheitenverordnung) ein formelles Gesetz (§ 551 II RVO, Berufskrankheit nach neuer Erkenntnis im Einzelfall) außer Kraft setzen könnte. Es ist überdies nicht ersichtlich, daß der Verordnungsgeber für die Vorzeit die Anwendung der Vorschrift zur Berufskrankheit nach neuer Erkenntnis im Einzelfall hätte ausschließen wollen. Selbst bei Berücksichtigung dessen, daß die Sozialkassen leer zu sein scheinen, dürfte den Betroffenen bzw. den Rechtsuchenden in diesen schlimmen Fällen das Verständnis für derartige Neuerungen durch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts fehlen. Kein Geld kostete die Berufsgenossenschaften die neue Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Anerkennung von Berufskrankheiten dem Grunde nach. Diese Rechtsprechung betrifft die Fälle, in denen dann (noch) keine Verletztenrente zu gewähren ist. Eine solche Anerkennung bringt dem Betroffenen herzlich wenig.

Vorsicht: Die neuere Rechtsprechung hinsichtlich der Feststellung einer Berufskrankheit dem Grunde nach geht zeitlich einher mit BSG-Rechtsprechung, in welcher man bei Staublungen (Silikosen, Asbestosen) zum Schaden der Betroffenen die Grundsätze der abstrakten Schadensberechnung bei der Feststellung des Rentensatzes ausschließt. Es käme auf den Funktionsausfall der Lunge an und nicht darauf, wie viele Arbeitsplätze durch eine Silikose oder Asbestose dem Betroffenen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verschlossen sind. Letzteres wäre kein dem Funktionsausfall zurechenbarer Schaden.

Wenn Sie eine Lungenstarre im Sinne der Asbestose oder Silikose aufweisen, wird Sie diese Rechtsprechung nicht zufrieden stellen können, aufgrund derer Sie dann keine Verletztenrente von der Berufsgenossenschaft erhalten.

Tip: Wegen der Progredienz von Silikose und Asbestose sollten Sie auf jeden Fall die Berufsgenossenschaftsrente hierfür anstreben, gegebenenfalls eine solche von 50 % MdE, weil letzteres wie eine Lebensversicherung wirkt.

50 % MdE sind dann erreicht, wenn infolge Ihrer Lungenbeeinträchtigung 50 % der Ihnen zuvor offenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verschlossen sind, Berechnung im Sinne der sogenannten abstrakten Schadensberechnung. Im Falle einer MdE von 50 % gilt bei Asbestose oder Silikose die gesetzliche Vermutung, daß der Tod als Berufskrankheitsfolge gilt.

Man hätte sich mehr Praxisnähe gewünscht bei der fatalen Neuerung der BSG-Rechtsprechung zur Vergleichsberechnung des Jahresarbeitsverdienstes bei einer Berufskrankheit, bezogen auf den letzten Tag der gefährdenden Beschäftigung. Wenn ein Versicherungsfall einer Berufskrankheit auftrat, der Betroffene konnte zu diesem Zeitpunkt bereits pensioniert sind, so sah das Gesetz vor und die Berufsgenossenschaften beherzigten dies dann auch, daß beim Jahresarbeitsverdienst, der ansonsten als Mindestsatz nur festgesetzt worden wäre, eine Vergleichsberechnung des Jahresarbeitsverdienstes mit demjenigen für das letzte Jahr vor Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit stattzufinden hatte. Der günstigere Wert wurde dann der Rente aufgrund der Berufskrankheit zugrunde gelegt. Die Differenz konnte gewaltig sein bei der Rente. 40 % Witwenrente nach einem Jahresarbeitsverdienst von DM 80.000,– ergeben einen anderen Betrag als 40 % Witwenrente nach einem Mindestjahresarbeitsverdienst von vielleicht DM 30.000,– DM.

Mit einer dahingehenden Praxis der Vergleichsberechnung, die über Jahrzehnte funktioniert hatte, brach dann plötzlich das Bundessozialgericht mit der Begründung, eine solche Vergleichsberechnung würde voraussetzen, daß die gefährdende Tätigkeit wegen der Berufskrankheit aufgegeben worden sein müßte, als ob nicht die Berufskrankheiten oft erst Jahrzehnte später ausbrächen und dies dem Gesetzgeber bei Schaffung des § 572 RVO seinerzeit bekannt gewesen wäre. Dieser Bruch in der Rechtsprechung wurde allerdings dann gottlob repariert vom selben Bundessozialgericht mit der Begründung, einige Berufsgenossenschaften würden in jedem Fall eine Vergleichsberechnung durchführen und Gründe der Gleichbehandlung sprächen für die Aufgabe der neueren Rechtsprechung, die zusätzlich gefordert hatte, die Berufskrankheit müßte zur Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit geführt haben, wenn der Betroffene in den Genuß der Vergleichsberechnung gelangen wollte.

Frage: Ermessen Sie bitte einmal die Dunkelziffer der Fälle, in welchen die Betroffenen aufgrund einer entbehrlichen Verschärfung der BSG-Rechtsprechung in der Praxis um die Erhöhung der Rente im Rahmen der Vergleichsberechnung gebracht worden sind und in welchen die Betroffenen von der zwischenzeitlichen Aufgabe dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung keine Kenntnis erlangt haben.

Jeder Erkrankte war gut beraten,. trotz entgegenstehender neuerer BSG-Rechtsprechung auf der Vergleichsberechnung zu bestehen, wie die weitere Entwicklung beweist.

Auch bei den Hausfrauenmesotheliomen, Ehefrauen reinigten die Arbeitskleidung ihrer Männer vom Asbeststaub, war von vornherein Skepsis angebracht, wie denn das Bundessozialgericht solche Fälle entscheiden würde.

Tip: Erst die Anmeldung einer genügenden Zahl solcher Fälle macht in dieser pluralistisch aufgebauten Gesellschaft den Handlungsbedarf für die Berufsgenossenschaft augenfällig.

Hat Ihre Ehefrau damals Ihre Arbeitskleidung ebenfalls arbeitstäglich oder regelmäßig vom Asbeststaub befreit und ausgebürstet, sollten Sie auf einer regelmäßigen Nachuntersuchung auch Ihrer Frau durch die Berufsgenossenschaft bestehen, aus deren Mitgliedsunternehmen der gefährliche Staub herrührte.

Hinweis: Es sind Fälle bekannt, in welchen ein eintägiger oder wenige Wochen anhaltender Asbestkontakt 50 Jahre später zum Asbestmesotheliom führte, das schmerzhafter verläuft als ein Lungenkrebs.

Sicher ist es schwer für ein höchstes Gericht, solcher neuen Fallgestaltungen Herr zu werden. Dazu bedarf es allerdings auch des Anstoßes der Betroffenen, die mit der Wertung der finalen Handlungstendenz, die Handreichungen der Ehefrauen bei Reinigung der asbestverschmutzten Arbeitskleidung ihrer Männer wären ein rein privater Haushaltskontakt, wohl nicht das geringste anfangen können und die Dinge vielmehr gewerblich kausal sehen.

Muß sich die Berufsgenossenschaft im Grundsatzfall durch den Vorstand vertreten lassen bzw. sich von diesem die Revisionseinlegung genehmigen lassen? Während das Gesetz auch für die gerichtliche Vertretung im Grundsatzfall die Vorstandszuständigkeit festgeschrieben hat, hält das Bundessozialgericht dies offenbar für wenig praktisch. So kann es trotz der eindeutigen gesetzlichen Regelung vorkommen, daß im Grundsatzfall der Vorstand der Berufsgenossenschaft gleichwohl erst aus der Zeitung im nachhinein von der Tatsache eines dahingehenden Prozesses vor dem Bundessozialgericht erfährt und von dem getroffenen Urteil.

J. Können Sie Verfassungsbeschwerde einlegen?
1. In welcher Frist ist Verfassungsbeschwerde einzulegen?
2. Merkblätter des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsbeschwerde .

Unfälle am Arbeitsplatz