Die 13 – „Sie können der Nächste sein“
Arbeitsunfall, Wegeunfall, Berufskrankheit
0. Vorwort
Jeder 10. Berufstätige mag im Jahr einen Arbeitsunfall erleiden. So konnten in den alten Bundesländern jährlich 2 Millionen Arbeitsunfälle anfallen bei einigen tausend Todesfällen.Die Zahl der Betroffenen, die sich in den Jahren summiert, kann hoch sein.
Zu befürchten steht, daß jeder 10., der eine Verletztenrente von der Berufsgenossenschaft erhält, ein Schwerverletzter ist, d.h. unfallbedingt beinamputiert, querschnittsgelähmt, blind oder aber berufskrankheitsbedingt asbestkrebskrank etwa.
Oft fängt es ganz harmlos an.
Sie rutschen auf dem Weg zur Arbeit auf einer Bananenschale aus, knicken mit dem Fuß um oder aber es passiert dem Berufssportler Lothar Matthäus, daß er sich auf dem Spielfeld die Achillessehne reißt.
Ist dann der Ablehnungsbescheid der Berufsgenossenschaft als gottgegeben hinzunehmen?
Gibt es den Rechtsbehelf des Widerspruchs, der Klage etc.?
Können Sie einen rechtsbehelfsfähigen Bescheid beantragen?
Leider geht es auch schlimmer.
Sie wachen schwerverletzt im Krankenhaus aus der Narkose auf und wissen nicht, wie es zu dem Unfall auf dem Heimweg von der Arbeit kam und zu der Blutalkoholkonzentration, welche die Berufsgenossenschaft zum Anlaß nimmt, den Versicherungsschutz zu verneinen.
Sie greifen nach der Limonadendose, die auf der Fensterbank in Ihrem Büro steht und werden von einer Wespe in den Schlund gestochen.
Wiederum verneint die Berufsgenossenschaft gegenüber Ihrer Witwe und Ihren Waisen den Versicherungsschutz.
Es trifft Sie der Schlag beim Ausspruch der fristlosen Kündigung.
Seien Sie unbesorgt, nicht alle diese Fälle treffen ein und dieselbe Person.
Vielmehr gibt es eine Vielzahl von derart unglücklich verletzten Personen, die sich fragen müssen, ob die Berufsgenossenschaft nun zur Ablehnung berechtigt oder zur Entschädigung verpflichtet ist.
Gäbe es die Berufsgenossenschaften nicht, müßte man sie erfinden.
Es ist einfach wichtig, daß bei den schlimmen Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten ein Unfallversicherungsträger hilft, und zwar mit beachtlichen Leistungen.
Leider kann aber ein Konsens nicht festgestellt werden, daß die Berufsgenossenschaften etwa in den schlimmen Fällen durchweg zu helfen bereit wären.
Vielmehr läßt man wesentliche Mitursächlichkeit beruflicher Art außer Acht, etwa die Wegegefahren beim Wegeunfall bei gleichzeitiger Alkoholbeeinflussung („selber schuld“) oder man betont die Rauchgewohnheiten des Versicherten, der mit Asbest gearbeitet hat und lungenkrebskrank geworden ist.
In der Unfallsachbearbeitung scheint sich der Typus Vorgesetzter durchzusetzen, der durchaus nicht zimperlich ist, den Ablehnungsbescheid zu veranlassen. Andererseits läuft der Unfallsachbearbeiter Regreßgefahr und das Risiko der Mißliebigkeit, dem es an einer engagierten Unfall- und Berufskrankheitssachbearbeitung zu Gunsten der Verletzten bzw. Erkrankten gelegen ist.
In der Rechtsprechung finden sich deutliche Brüche, was die Beachtung der Kausalitätsnorm anbetrifft, welche die gesetzliche Unfallversicherung beherrscht. Das vorliegende Sachbuch, in welchem 13 exemplarische Fälle bzw. Punkte allerdings mit Hinweisen auf weitere Beispiele aus der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung vorgestellt werden, ist gerichtet an die Anschrift der Betroffenen und soll diesen gegebenenfalls bei der Durchsetzung der Ansprüche zur Seite stehen.
Viel zu oft wird die Entschädigung von Arbeitsunfall, Wegeunfall, Berufskrankheit von der Berufsgenossenschaft verworfen. Angeblich wäre der Alkohol auf dem Nachhauseweg von der Arbeit allein bedeutsame Ursache für den
Verkehrsunfall gewesen, weshalb Witwe und Waise leer ausgehen sollen.
Angeblich wäre es die Rauchgewohnheit und nicht die Asbestarbeit gewesen, welche den Lungenkrebs des Asbestisolierers oder Kfz.-Mechanikers hervorgerufen hätte.
Der Leser mag in den Routineeinwänden der Berufsgenossenschaft die Gefahr bestätigt sehen, daß ein Unglück selten allein kommt.
Das zweite Pech ist der nicht selten rechtswidrige Ablehnungsbescheid, der erst im Rechtsweg behoben wird, sofern die Betroffenen den Weg zum Gericht nicht scheuen.
Keineswegs darf die Alleinursächlichkeit der beruflichen Ursache von der Berufsgenossenschaft zur Entschädigungsvoraussetzung gemacht werden.
Keineswegs darf die Gleichwertigkeit der beruflichen Ursache gefordert werden.
Auch mindere berufliche Ursachen wesentlicher Art sind entschädigungspflichtig.
Ebensowenig schließt verbotswidriges Verhalten den Versicherungsschutz aus.
Wenn der Geschäftsreisende aus Eile die Ampel bei rot überfährt und einen Unfall erleidet, schließt dies den Versicherungsschutz gerade nicht aus. Gefährlich und anfechtbar ist der Einwand der sogenannten selbstgeschaffenen Gefahr, den Entschädigungspraxis und Rechtsprechung entwickelt haben.
In den seltensten Fällen könnte ein solcher Einwand berechtigt sein.
Die Bandbreite der ausgewählten 13 Fälle möge das Terrain abstecken helfen, in welchem der Versicherungsschutz noch gegeben sein kann.
Gundsätzlich ist jeder abhängig Beschäftige gegen Arbeitsunfall, Wegeunfall und Berufskrankheit versichert.
Darüberhinaus ist aber auch derjenige versichert, der nur wie ein Versicherter tätig wird.
Nur wie ein Versicherter, aber mit dem vollen Versicherungsschutz der Berufsgenossenschaft wird beispielsweise ein Passant tätig, der vom Polier einer Baufirma am Straßenrand gebeten wird, beim Aufbau des Gerüsts kurzfristig zu helfen, etwa die Leiter zu halten.
Stößt hierbei dem Passanten ein Arbeitsunfall zu, bricht etwa das Gerüst über ihm zusammen, genießt dieser den berufsgenossenschaftlichen Versicherungsschutz wie ein Versicherter.
Gleiches kann vom Ansatz her für die Hausfrau gelten, welche die Arbeitskleidung ihres Mannes, eines abhängig beschäftigten Asbestisolierers, regelmäßig zu hause reinigt und infolge dessen 30 Jahre später an einem Asbestkrebs in Form des Pleuramesothelioms erkrankt.
Kann der berufsgenossenschaftliche Einwand in die- sem schlimmen Fall hinhauen, die Hausfrau wäre ausweislich ihrer finalen Handlungstendenz ausschließlich in Erfüllung ihrer Haushaltspflichten tätig geworden.
Warum erkennt die Berufsgenossenschaft bei Anlegung des Maßstabes der finalen Handlungstendenz nur private Momente?
War sich die Hausfrau denn nicht bewußt, Arbeitskleidung zu reinigen?
Wußte die Hausfrau denn nicht, daß es sich um Arbeitsschmutz handelte und woher dieser kam, nämlich aus einem Industriebetrieb, dem Mitgliedsunternehmen der Berufsgenossenschaft.
Gegenwärtig läuft die Unfallversicherung Gefahr, die als Maßstab geeignete Kausalitätsbetrachtung über Bord zu werfen, also lieb gewordenes Gewohnheitsrecht, und statt dessen mit subjektiven Elementen:
Beliebige Auslegung der finalen Handlungstendenz die gewerblichen Zusammenhänge aus dem Auge zu verlieren.
Für die Beurteilung der Grenzfälle gibt der Maßstab der finalen Handlungstendenz so gut wie garnichts her, wohl aber eine Kausalitätsbetrachtung, die zwingend geboten bleibt.
Gemessen an der finalen Handlungstendenz eines Sparkassenangestellten, der Samstags nachts zu Hause auf
dem Gang zur Toilette überfallen wird, erleidet dieser keinen Arbeitsunfall, obwohl die Täter sich in den Besitz der Sparkasssenschlüssel zu bringen trachteten und den Sparkassenangestellten dabei schwer verletzten.
Was das Gewicht der Mitursache anbetrifft, das man bei der beruflichen Bedingung fordern darf, befrage man einmal die höchsten Richter beim Bundessozialgericht, ab welchem prozentualen Gewicht Mitursächlichkeit beruflicher Art wesentlich sein kann.
Keineswegs gilt hier eine 50%-Hürde, wie diese allenthalben, sogar in Beweisanordnungen praktiziert wird.
An diesem Maßstab der annähernden Gleichwertigkeit der beruflichen Ursache, die man immer wieder zu Unrecht fordert, scheitern unendlich viele Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten.
Der berufsgenossenschaftliche Fehlansatz scheint daher zu rühren, daß man die Äquivalenztheorie des Strafrechts falsch verstanden hat und auf die Unfallversicherung aufgestülpt.
An anderer Stelle begegnen wir wieder der 50%-Hürde, nämlich im Berufskrankheitenrecht.
Bis hinein ins BMA fordert man offenbar gemeinhin die Verdoppelung des Risikos, um es zur Anerkennung einer Berufskrankheit kommen zu lassen, ob im Strahlenkrebsfall oder bei den Asbesterkrankungen.
Als ob nicht eine Erhöhung des privaten Risikos um berufliche 33 1/3 % oder 50 % nicht schon die Wesentlichkeit der beruflichen Ursache bedingen würde.
Während jedenfalls die gesetzliche Vorgabe beim Arbeitsunfall als gelungen zu bezeichnen ist, kann man dies dem Berufskrankheitenrecht beim besten Willen nicht attestieren.
Kein Mensch würde beim Arbeitsunfall einwenden, ein Leitersturz sei deshalb kein Arbeitsunfall, weil nicht das
Knie, sondern der Kopf verletzt wurde.
Eine derartige Kasuistik findet man aber allenthalben im Berufskrankheitenrecht.
So wird ein Stimmbandtumor nach Asbesteinwirkung nicht als Berufskrankheit anerkannt, weil in der deutschen Berufskrankheitenliste das Zielorgan Stimmband bei den Asbesterkrankungen nicht vorkommt.
Will man in solchem Fall die Anerkennung als Berufskrankheit nach neuer Erkenntnis erreichen, stehen dem schier unüberwindbare Hindernisse entgegen.
In den ersten 20 Jahren nach gesetzlicher Einführung der Berufskrankheit nach neuer Erkenntnis gab es vielleicht gerade 100 Fälle der Anerkennung, diese aber offenbar nur auf langwierigen Rechtsstreit hin.
Eine Rangfolge in der Bedeutung kann man den 13 Fällen nicht beigeben, obwohl einige schon zum Fürchten sind.
Fall 13 ist vielleicht der Tückischste: Hier besucht, wie tatsächlich geschehen, der 12-Jährige seinen Vater am Arbeitsplatz in der Asbestfirma, hilft gelegentlich mit beim Verladen von Asbestmatten, beim Ausfegen des Asbestmatratzenraums.
30 Jahre später erkrankt der Sohn, inzwischen verheiratet und Familienvater, infolge dessen an Asbestkrebs (Pleuramesotheliom).
(Der Vater starb bereits an Asbestose und die Mutter ebenfalls an Asbestkrebs.)
** Die obigen rechtlichen Ausführungen stellen naturgemäß keine Rechtsberatung dar, sondern sollen lediglich als erste Information und Orientierung dienen. Dabei ist zu beachten, dass sich die Rechtslage auch jederzeit ändern kann und die obigen Ausführungen insofern nicht in jedem denkbaren Fall die jeweils aktuellste Rechtslage darstellen können.