B. Versicherungsfälle: Arbeitsunfall, Wegeunfall und Berufskrankheit
5.4 Die Berufskrankheit nach neuer Erkenntnis im Einzelfall (Öffnungsklausel)
1963 hat der Gesetzgeber insofern eine Öffnung vorgenommen, als zusätzlich zu der bislang gebräuchlichen Berufskrankheitenliste eine Einzelfallentschädigung möglich sein sollte, wenn nach neuen medizinischen Erkenntnissen die übrigen Voraussetzungen einer Berufskrankheit gegeben sind. Die berufsgenossenschaftliche Fachliteratur wehrt sich gegen den Begriff der sogenannten Generalklausel ebenso wie die Rechtsprechung. In den ersten zwanzig Jahren nach Einführung dieser Öffnungsklausel wurden dann auch gerade etwa 100 Fälle auf diesem Wege zur Entschädigung gebracht, dazu noch erst auf einen Prozeß hin, den die Erkrankten oder deren Hinterbliebene anstrengen mußten.
Tip: Ziehen Sie die Auslegungsvorschrift des § 2 II SGB I hinzu.
Bei der Auslegung der gesetzlichen Vorschriften, hier des § 551 II RVO alter Fassung bzw. des § 9 II SGB VII, ist nämlich sicher zu stellen, daß die Rechte der Anspruchsteller möglichst weitgehend verwirklicht werden. Davon kann im Rahmen der Einzelfallentschädigung nach neuer medizinischer Erkenntnis allerdings beim besten Willen nicht die Rede sein, daß diese Auslegungsvorschrift beherzigt oder gar erörtert würde in den einschlägigen Urteilen, in welchen die Anforderungen immer höher geschraubt wurden.
5.4.1 Die 50 % – Hürde
Auch hier findet sich in modifizierter Form die 50 %-Hürde, die man den Betroffenen zu Unrecht in den Weg stellt. Erst ab einer Verdoppelung des Risikos könnte man für die Einführung einer neuen Berufskrankheit plädieren.
Fall: Versicherter erleidet nach Asbestarbeit Lungenkrebs. Die ermittelte Asbestfaserjahrzahl ergibt 20 sogenannte Asbestfaserjahre.
Die Mediziner gehen auf berufsgenossenschaftlichen Druck hin hierzulande davon aus, daß erst ab dem Vorliegen von 25 Asbestfaserjahren das Risiko verdoppelt ist, an Lungenkrebs zu erkranken. Inwiefern bei Vorliegen von 20 sogenannten Asbestfaserjahren diese Belastung nicht wesentlich mitursächlich sein soll für den Lungenkrebs oder diese 20 Asbestfaserjahre keine wesentliche Risikoerhöhung darstellen sollen, erklären die Berufsgenossenschaften nicht.
Hinweis: In früherer Zeit plädierten die Mediziner für eine Entschädigung des Lungenkrebs nach Asbesteinwirkung, selbst wenn keine Staublunge oder 25 Asbestfaserjahre vorlagen.
Diese Sehweise entsprach der Regelung der Internationalen Berufskrankheitenliste der IAO in Genf, dort die Berufskrankheitsnummer 28.
5.4.2 Lungenkrebs durch lungengängige Quarzstäube etwa der Bergarbeiter
Neuere Erkenntnisse der Arbeitsmedizin belegen offenbar, daß lungengängiger bzw. alveolengängiger Quarzstaub Lungenkrebs erzeugen kann.
Fall: Bergmann inhaliert alveolengängigen Quarzstaub und erkrankt an Lungenkrebs.
Hier handelt es sich offenbar um eine Berufskrankheit nach neuer Erkenntnis im Einzelfall, welche nicht mit dem Listenfall eines sogenannten Narbenkrebs bei bestehender Silikose etwa zu verwechseln ist.
Tip: Melden Sie Ihre Ansprüche sofort bei der Berufsgenossenschaft an. Ein einfacher Brief genügt.
5.4.3 Rückwirkender Ausschluß der Entschädigung von Fällen aus der Vorzeit einer Erweiterung der Berufskrankheitenliste?
Nicht nur gegen die 50%-Hürde haben die Betroffenen zu kämpfen. Hat man nun die Berufskrankheitenliste endlich um die Lungenkrebsfälle mit 25 Asbestfaserjahren erweitert, mit Wirkung ab 01.04.1988, so soll angeblich verboten sein, so das Bundessozialgericht, Fälle der gleichen Art aus dem März 1988 nach § 551 II RVO als Berufskrankheit nach neuer Erkenntnis zu entschädigen. Dies würde durch die Verordnung zur Erweiterung der Berufskrankheitenliste ausgeschlossen.
Frage: Kann der Bundesarbeitsminister durch Rechtsverordnung die Anwendung eines formellen Gesetzes für die Vergangenheit verbieten, welches der Bundestag beschlossen hat?
In früherer Zeit lief es bei den Asbestmesotheliomen einfacher. Man führte erst Einzelfallentschädigungen herbei und dann wurde schließlich die Berufskrankheitenliste erweitert. Fälle aus der Zeit vor Wirksamwerden der Erweiterung konnten nach § 551 II RVO nach wie vor als Berufskrankheit nach neuer Erkenntnis im Einzelfall entschädigt werden. Damit will das Bundessozialgericht neuerdings Schluß machen.
Frage: Kann es sein, daß hier die Gewaltenteilung nicht mehr recht funktioniert, weil sich höchstrichterliche Rechtsprechung und Exekutive (Ministerium, Berufsgenossenschaften) offenbar zu nahe gekommen sind?
Das Leid der Betroffenen scheint jedenfalls bei den Asbestlungenkrebsfällen unendlich zu sein, derart, daß man nicht einmal mehr in der nahen Vergangenheit liegende Fälle entschädigen will, von denen man heute weiß, daß sie berufsbedingt sind (Asbestfaserjahrfälle).